EZ vom 2.8.2002

Kluft zur Politik überbrücken
Esslingen: OB würdigt Bürgerengament - "Keine Wunschzettel-Demokratie"

Von Christian Dörmann

Für Esslingens Oberbürgermeister Jürgen Zieger gibt es auf dem eingeschlagenen Weg kein Zurück. "Von der Ordnungsverwaltung hin zur Bürgerkommune", lautet sein Ziel und diesem sei man in den vergangenen vier Jahren ein deutliches Stück näher gekommen. Dass damit aber nicht "Wunschzettel-Demokratie" gemeint sein kann, machte der OB gestern während einer Pressekonferenz deutlich.
Die Beteiligung der Bürger am Geschehen in ihrer Stadt - daran knüpft sich für den Verwaltungschef eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit: Kann es gelingen, die immer tiefer werdende Kluft zwischen Bürgern und Mandatsträgern zu überbrücken? Die Erfahrungen der letzten vier Jahre stimmen Zieger zuversichtlich, wenngleich er freimütig einräumt, dass der Prozess "nicht unanstrengend" ist. Verschiedentlich geäußerter Kritik aus den Reihen der Agenda-Gruppen, der OB interessiere sich zu wenig für die Arbeit der ehrenamtlich tätigen Bürger, begegnet Zieger mit einem klaren "stimmt nicht". Er sei aber nicht willfährig und es ist aus seiner Sicht keinesfalls genug, nur genügend Unterschriften zu sammeln, um die Verwaltung zum prompten Handeln zu bewegen. Der Prozess der Bürgerbeteiligung bedeute keine "Wunschzettel-Demokratie" und am Ende könne den politisch Verantwortlichen die Entscheidung nicht abgenommen werden.
Gleichwohl spricht der OB mit Blick auf die Bürgerbeteiligung in Esslingen von einem vorbildlichen Engagement, das im Land tatsächlich seinesgleichen sucht. So sind etwa knapp drei Jahre nach Beginn der von Zieger initiierten Lokalen Agenda 21 noch immer 150 Bürgerinnen und Bürger für 19 Projekte aktiv, teilweise mit bundesweit anerkannten Erfolgen. Der OB: "Die Gruppen haben den Eindruck, dass die Agenda politisch gewollt ist." Und dazu gehört für das Stadtoberhaupt auch die entsprechende Unterstützung. Vor zwei Jahren ist im Neuen Rathaus das Aktivbüro eröffnet worden und mit OB-Referentin Anja Scholz steht eine kompetente Projektleiterin für Koordination und Hilfe zur Verfügung. Fortbildungskurse für Ehrenamtliche, die derzeit von der Stadt zur Hälfte finanziert werden, sollen Qualifikation und Engagement weiter befördern. Der Aufbau eines virtuellen Rathauses mit 35 Diensten im Rahmen des Projektes MediaKomm, Bürger-PCs und der Aufbau von ,Bürgerämtern im Behördenzentrum Beblinger Straße sowie in den Rathäusern Berkheim und Zell sind für Jürgen Zieger weitere Belege dafür, dass Anregungen von Bürgern angenommen und zu ihrem Nutzen umgesetzt werden. Zu wichtigen Impulsgebern für das gesellschaftl che Leben in Esslingen hätten sic i die Bürgerstiftung Esslinger Sozia werk (790 000 Euro Grundkapita ) und die Zukunftsstiftung Heinz Weiler (mehr als eine Million Euro)' entwickelt. Viele Projekte im Sinne der Bürgerschaft würden dadurch möglich.
Dem Wunsch nach einer offeneren Kommunikation zwischen Bürgern und Verwaltung stellt sich der OB auch selbst durch seine persönliche Bürgersprechstunde, die abwechselnd in allen Stadtteilen stattfindet. 28 solcher Sprechstunden waren es in den letzten vier Jahren - 313 Bürgerinnen und Bürger suchten den direkten Kontakt zum 0B, wobei Wohnungs- und Verkehrsthemen im Vordergrund standen. Noch in diesem Herbst wird das Angebot durch einen "OB-Chat" im Netz flankiert. "So verliere ich nie die Bodenhaftung", sagt Zieger und ermuntert die Menschen weiterhin, den Weg zur Bürgerkommune mitzugehen: "Mischen Sie sich ein."

 

 

Kommentar dazu: Auf gutem Weg

Von Christian Dörrnann

Wer andere zur Mitarbeit an einem Projekt auffordert, dem muss klar sein, dass er sich auf ein schwieriges Geschäft einlässt. Wenn viele mitredenund ganz unterschiedliche Ideen einbringen, verläuft der Entscheidungsprozess mitunter zäh. Dies ist so lange nicht von Schaden, wenn am Ende ein gutes Ergebnis steht, das von den meisten Beteiligten mitgetragen wird. Auf diesem guten Weg befinden sich Verwaltung und ehrenamtlich Engagierte in Esslingen, auch wenn verschiedentlich Gegrummel zu hören ist. OB Ziegers Hinweis, Bürgerbeteiligung könne nicht zur Munschzettel-Demokratie" führen, hat nichts mit Abquallfizierung zu tun. Es geht vielmehr um die schlichte Tatsache, dass der Politik am Ende die Entscheidung nicht abgenommen werden kann. So will es unser System.
Die Arbeit vieler Ehrenamtlicher in Vereinen, Bürgerausschüssen oder Agenda-Gruppen zeigt aber, dass sich Politik und Verwaltung sehr wohl in ihren Entscheidungen beeinflussen lassen. Dies gilt sogar für das Thema Baugebiete, bei dem sich Projektgruppen der Agenda auf der einen, Verwaltung und eine breite Mehrheit im Gemeinderat auf der anderen Seite, mehr oder weniger unversöhnlich gegenüber stehen. Baugebiete sind entgegen der ursprünglichen Planung abgespeckt und ökologische Gesichtspunkte vermehrt berücksichtigt worden. Das ist mit ein Verdienst der Agenda-Gruppen. Für den völligen Verzicht auf neue Wohnbauflechen gibt es nun mal keine Mehrheit in der Stadt.
Bürgerinnen und Bürger haben bundesweit beachtete Projekte wie Ökoprofit oder Solarprofit umgesetzt oder auf den Weg gebracht. Neue Tempo 30-Zonen entstehen auf Anregung engagierter Mitstreiter und der Nahverkehr erfährt durch ihr Wirken neue Impulse. In Esslingen funktioniert Bürgerbeteiligung nicht in allen Fällen. Aber sie funktioniert besser, als irgendwo sonst im Land.